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Ärzte erkunden das älteste Schlachtfeld Mitteleuropas

26. March 2015

Prof. Jürgen Piek hat mit Kollegen verschiedener Disziplinen jeden einzelnen Fund unter die Lupe genommen.

Den Knochenfunden ist teils martialische Gewalt abzulesen

Es sind mitunter sehr spezielle Patienten, die Prof. Dr. Jürgen Piek seit vielen Jahren untersucht. Während der leitende Rostocker Neurochirurg sich für gewöhnlich jenen widmet, die etwa nach Verkehrsunfällen schlimme Kopfverletzungen erlitten haben, wüssten die anderen Menschen in seiner Obhut mit dem Wort Verkehr rein gar nichts anzufangen: Sie sind seit 3500 Jahren tot.

Piek und drei seiner Kollegen aus der Radiologie, Unfallchirurgie und Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Rostock unterstützen das insgesamt mehr als 30-köpfige internationale Forscherteam rund um das älteste Schlachtfeld der europäischen Bronzezeit, das Tollensetal nördlich von Altentreptow. Gerade ist der erste Buchband zur Ausgrabungsstätte erschienen. 

Die Fundstelle hat seit Entdeckung der ersten Knochen und Holzkampfwaffen in den 1990er Jahren Überreste von bisher mindestens 124 Personen freigegeben. Alle offenbar im Kampfgetümmel gestorben – die teils martialischen Verletzungen legen den Verdacht nahe. Da kommen die Mediziner ins Spiel. Seit 2010 fördern die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Landesbildungsministerium die Aufarbeitung des Rätsels vom Tollensetal. Seitdem haben Piek und seine Mitstreiter mehr als 9300 Knochen untersucht. Rippen, Schädel, Wirbel, Becken, Oberschenkel schoben sie unter das Mikroskop und in den Computertomografen, bestimmten die Art der Verletzungen und zogen Schlüsse daraus. Welche Geschichte erzählen die Spuren, aus welcher Richtung kam der Gewalteinfluss? Rechtsmediziner Prof. Dr. Andreas Büttner und seine Mitarbeiter berieten die Archäologen und Anthropologen bei der Erkundung der Reste aus dem Flüsschen, das das Tal durchzieht. Er klärte sie auf, wie genau sich eine Leiche im Wasser zersetzt und welche Bestandteile zuerst fortgeschwemmt werden.

Viele der gefundenen Schädel weisen Risse und Löcher auf. „Heute haben die Menschen oft Hochgeschwindigkeitsverletzungen am Kopf, bei den gefundenen Fragmenten hingegen sehen wir Frakturen, die von Hieben, Stürzen, Schlägen herrühren“, sagt Neurochirurg Piek. Pfeilspitzen in Oberarmen, Frakturen im Schädel oder am Rücken – einige der Attacken, wahrscheinlich unter dem Einsatz simpler Holzwaffen, hätte man heute unter Umständen „gut überlebt“, glaubt der Mediziner. „Die Sterblichkeit selbst schwerer Kopfverletzungen liegt in Zeiten der modernen Intensivmedizin bei 20 bis 30 Prozent.“ Doch in der Bronzezeit waren Schädel-Hirn-Traumata meist ein Todesurteil, ebenso offene Verletzungen der Wirbelsäule. Operative Eingriffe – Schädelbohrungen – wagte man auch damals schon. „Ich frage mich, wie diese Leute anschließend gepflegt wurden, wer sich um sie kümmerte“, sagt Jürgen Piek. Die Eingriffe faszinieren ihn allein schon deshalb, weil sie die Anfänge seines Fachs markieren.

Tauchen keine neuen Funde auf, dauert das Mammutprojekt mit Auslaufen der Förderung noch zwei bis drei Jahre an. Dann hat das interdisziplinäre Team einen erheblichen Beitrag zur Erhellung der Geschichte auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns geleistet. Zum Fundplatz gibt es eine Dauerausstellung im Neuen Museum in Berlin. Dort ist die Fundschicht in 3-D rekonstruiert.

Ansprechpartner: Prof. Dr. Jürgen Piek, Leiter der Abteilung Neurochirurgie, Tel.: 0381/ 494 6439