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Geistig behinderte Mädchen werden oft Opfer sexueller Gewalt: Rostocker Studie weist Wege der Prävention

03. December 2012

Jede vierte Frau mit einer geistigen Behinderung wird im Laufe ihres Lebens sexuell missbraucht. „Das geschieht bei 39 bis 83 Prozent der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag“, sagt Professor Frank Häßler, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter (KJPP) der Universitätsmedizin Rostock.

Die Rostocker Wissenschaftler sind sich einig: „Geistig behinderte Mädchen sind die Zerbrechlichsten der Zerbrechlichen“. Dennoch gibt es bis jetzt kaum Studien, die Präventionsprogramme untersuchen. „Geistig Behinderte sind immer noch Stiefkinder der Medizin“, sagt Professor Häßler, der seit 24 Jahren Mädchen und Jungen im Rostocker Michaelshof, einer Pflege- und Fördereinrichtung für Menschen mit Behinderung, betreut. 

 

Das Rostocker Team betritt jetzt Neuland mit einer in Deutschland bislang einzigartigen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie. Ziel ist es, eine Methode zu finden, die die Mädchen befähigt zu lernen, in einer Gefahrensituation im Alltag Nein zu sagen, sexuelle Übergriffe abzuwehren und die Hilfe anderer Erwachsener in Anspruch zu nehmen. Die Studie unter Leitung des Rostocker Zentrums läuft in Kooperation mit zwei Partnern in Bayern, Wildwasser e.V. und dem Heckscher Klinikum. Sie ist eins von bislang sieben Projekten, die im Ergebnis des Runden Tisches, der zum verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt ins Leben gerufen wurde und vom BMBF gefördert werden. Dabei steht die offene Frage im Raum, ob geistig behinderte Mädchen ein kognitiv-behaviorales Schema entwickeln können, das sie in die Lage versetzt, eine missbräuchliche Situation von einer nicht übergriffigen Situation zu trennen. Der Psychologe Dr. Olaf Reis, der die Forschungsabteilung der Rostocker Klinik leitet, beschreibt den Ansatz so: „Wir wollen die Mädchen in die Lage versetzen, auf Verführungen abwehrend zu reagieren“. Sowohl er als auch Prof. Häßler stellen in diesem Zusammenhang klar: „Die Verantwortung liegt beim Täter; die Mädchen sind nicht verantwortlich zu machen“. 

 

Menschen mit geistigen Behinderungen fällt es meist schwer, Erlebnisse richtig zu behalten, einzuordnen oder zu beschreiben. Grenzüberschreitungen fühlen, Grenzen ziehen und sich selbst auch welche auferlegen. Das klingt gar nicht so schwer, ist aber für Menschen, deren emotionale Fähigkeiten deutlich ausgeprägter sind als ihre rationalen, schwer zu lernen. Deshalb wird das Training in kleinen Gruppen sehr intensiv gestaltet, um Gedächtnisverluste zu vermeiden. „Also kein Frontalunterricht, sondern ein gestuftes Training, in dem auch verschiedene Verführungssituationen unter erfahrener Expertenanleitung trainiert und in Rollenspielen nachempfunden werden“, beschreibt es die Studienkoordinatorin Wencke Chodan. Wichtig ist dabei auch, welches Vokabular gewählt wird. Deshalb werden besonders in die erste Projektphase viele Praktikerinnen und Praktiker einbezogen. Bis jetzt gibt es kein evaluiertes Programm, das das berücksichtigt hat. „Für geistig behinderte Menschen sind auf Grund der eingeschränkten Behaltensleistungen Auffrischungssitzungen äußerst wichtig“, hebt Psychologin Wencke Chodan hervor.

 

Wissenschaft und Praxis sollen so zusammengeführt werden, denn einen so genannten „Goldstandard“ für das Präventionsprogramm bei geistig behinderten Kindern gibt es noch nicht. „Der muss erst erarbeitet werden“, skizziert Häßler die Herausforderung. Das Ziel bei der Erstellung des Programms liegt darin, deutschlandweit Experten zusammen zu holen und sich darüber zu einigen, worin dieser Goldstandard besteht“. 

 

146 geistig behinderte Mädchen sollen in die Studie eingeschlossen werden. „Die Hälfte der Mädchen erhält das Präventionsprogramm, die andere Hälfte eine Art ‚Placebo-Training’, das ähnlich aufgebaut ist, aber andere Inhalte verfolgt“, schildert Dr. Reis. „Wir wollen so sicherstellen, dass Effekte nicht auf das Trainiertwerden, sondern auf Inhalte zurückzuführen sind“. Chodan: „Wir müssen am Ende alltagsnah nachweisen, dass die Mädchen ihr Verhalten nach dem Training geändert haben.“ Dazu zählt auch, dass ethisch vertretbare Verführungssituationen simuliert werden, in denen Schauspielstudenten möglichst realistisch Täterstrategien darstellen. Während dieser Testungen werden die Mädchen unbemerkt von ihren Eltern beobachtet. Nur so kann mit hinreichender Gültigkeit gemessen werden, wie die Mädchen reagieren. „Das geschieht mittels versteckter Kamera und unabhängiger Beurteilung des Abwehrverhaltens der Mädchen“, unterstreicht Dr. Reis. Die Videos werden deshalb von unabhängigen Urteilern ausgewertet. 

 

Sollte sich das Programm als effektiv erweisen, wird es Praktikern in ganz Deutschland zur Verfügung gestellt. Die Teammitglieder sind sich einig: Es kann bei der Studie auch herauskommen, dass man die Mädchen mit den gewählten Methoden nicht effektiv schützen kann. Aber auch das wäre ein wichtiges und ethisches Ergebnis, denn es würde dann bedeuten, dass die Mädchen anders geschützt werden müssen und die Prävention besser in der Umgebung der potenziellen Opfer angesiedelt werden sollte.