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Rostocker Forscher entwickeln intelligentes Hüftgelenk

12. October 2022
Forscher mit Hüftgelenk

Die Hüftendoprothese wird mit einer Piezo-Keramik ausgestattet, um mechanische Energie in elektrische Energie umzuwandeln. Dr. Daniel Klüß zeigt hier den Funktionsdemonstrator der intelligenten Hüftendoprothese (Foto: Universität Rostock/Thomas Rahr).

Wie sieht das künstliche Hüftgelenk der Zukunft aus? Damit beschäftigt sich Privatdozent Dr. Daniel Klüß von der Universitätsmedizin Rostock. „Die neue Generation an Hüftimplantaten wird mit Intelligenz ausgestattet sein“, sagt Klüß, dessen Forschungsschwerpunkt Biomechanik ist.

Künstliche Gelenke halten zwar immer länger. Dennoch werden in Zukunft gerade jüngere Patientinnen und Patienten sogenannte Revisionsoperationen brauchen, wo wiederholt erneuter Gelenkersatz erforderlich ist. Dass eine künstliche Hüfte nicht ewig hält, liegt einerseits am Verschleiß, andererseits aber auch an einer Überbeanspruchung des Implantats, so Klüß, der das Rostocker Prüflabor Innoproof leitet. Lässt sich der Überbeanspruchung beikommen? „Eindeutiges Ja“, so Daniel Klüß.

Im Sonderforschungsbereich (SFB) 1270 ELAINE der Universität Rostock werden elektrisch aktive Implantate entwickelt. Die Forscherinnen und Forscher wollen unter anderem herausfinden, wie man aus mechanischer Energie, die beim Laufen oder Gehen entsteht, elektrische Spannung gewinnt. Dies sei die wichtigste Voraussetzung dafür, eine Intelligenz ins Hüftgelenk der Zukunft unterzubringen, erläutert Klüß. Dafür wird die Hüftendoprothese mit einer so genannten Piezo-Keramik ausgestattet. „Im Labortest wird die mechanische Energie der Verformung des verwendeten Keramik-Materials in elektrische Energie umgewandelt. Diese Verformung der Keramik wird vom Patienten dann herbeigeführt, wenn dieser sein Implantat beispielsweise beim Gehen regelmäßig belastet. Die dadurch entstehende elektrische Energie wird gesammelt – im Fachjargon sprechen wir von Energy Harvesting – um damit Sensoren und elektrische Schaltungen im Implantat zu versorgen.“ Diese Sensoren und Schaltungen sollen später vollkommen neue Funktionen an Hüftimplantaten ermöglichen. Der Projektplan in ELAINE sieht vor, dass die künstliche Hüfte messen soll, wie es um die Qualität des umgebenden Knochens bestellt ist, und wie fest das Implantat noch im Knochen verankert ist.

Damit die Keramik in der Hüfte der Zukunft tatsächlich Strom erzeugt, seien jedoch noch weitere Entwicklungsschritte nötig. Zunächst, so formuliert es Daniel Klüß, sei eine Veränderung des Designs der bisherigen künstlichen Hüftgelenke erforderlich. Ziel der Rostocker Forschenden ist, eine Hüfte der neuen Generation zu entwickeln, die auch mit einer integrierten Keramik stabil bleibt. Warum das so wichtig ist? In seiner Tätigkeit als Gutachter hat Klüß bereits zahlreiche gebrochene Implantate gesehen. Er kennt das Risiko von veränderten Implantatdesigns. An der Piezo-Keramik darf am Implantat keine Sollbruchstelle entstehen.

„Energieautarke, elektrisch aktive Implantate für intelligente Implantate zur Regeneration von Knochen und Knorpel und die Therapie von Bewegungsstörungen sind das zentrale Ziel von ELAINE. Unser interdisziplinäres Forschungsteam möchte mit neuen Erkenntnissen und Innovationen zu einer höheren Lebensqualität für Alt und Jung beitragen. Die Forschungsergebnisse von Daniel Klüß sind ein sehr schönes Beispiel für erfolgreiche interdisziplinäre Grundlagenforschung“, so die Sprecherin des Sonderforschungsbereichs Prof. Dr. Ursula van Rienen.

Das Rostocker Team hat bereits zahllose vielversprechende Simulationen und Berechnungen für ein intelligentes Hüftgelenk durchgeführt. Parallel dazu laufen im Prüflabor von Innoproof mechanische Versuche. „Die Testnormen wurden auch im zweifachen Durchlauf bestanden“, sagt Daniel Klüß.  „Mit der neuen Technik des Energy Harvesting gibt es jetzt auch eine Quelle von elektrischer Energie in der Hüftprothese.“ Im SFB ELAINE gehe es nun zunächst darum zu erforschen, wie diese Energiequelle auch als Sensor für Knochenqualität und Implantatlockerungen benutzt werden könne. 

Das neu entwickelte Diagnosesystem soll auch Auskunft darüber geben können, wie aktiv der Patient tatsächlich ist. Denn: Je aktiver der Patient, desto mehr elektrische Spannung wird erzeugt. Durch das Auslesen des Sensors können Ärzte später erkennen, ob beispielsweise Übungen im Rahmen einer Reha gewissenhaft absolviert wurden oder ob der Patient sein Implantat beim täglichen Joggen im Park überlastet hat oder im umgekehrten Fall zu Hause auf der Couch zu sehr geschont hat, erläutert Klüß, der seit Juni 2022 öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Begutachtung von Implantaten ist. Der 44-jährige Familienvater von zwei Kindern, der sich in seiner wenigen Freizeit gerne in der Kletterhalle auspowert oder auf der Wakeboard-Anlage im Rostocker IGA-Park Gas gibt, blickt bereits einen weiteren Schritt voraus. „Wir wollen die elektrische Energie nutzen, um das Knochenwachstum zu stimulieren.“ Das sei besonders wichtig für Patienten, die bereits ihre zweite oder dritte Hüftoperation hinter sich haben.  

Fächerübergreifend fragen – forschen – entdecken: Mit der Gründung der bundesweit ersten Interdisziplinären Fakultät im Jahr 2007 hat die Universität Rostock wissenschaftliche Maßstäbe gesetzt. Anlässlich ihres 15-jährigen Jubiläums veranstaltet die Interdisziplinäre Fakultät gemeinsam mit der Hanse- und Universitätsstadt Rostock die neue Gesprächsreihe „Universität im Rathaus“. Sie richtet sich an „alle, die es einfach wissen wollen“. Inwiefern „Knochen unter Strom“ bzw. elektrisch aktive Implantate Gelenk-Patient*innen helfen oder heilen können, diskutieren am 10. November 2022 ab 18 Uhr Prof. Ursula van Rienen sowie Prof. Rainer Bader vom Sonderforschungsbereich ELAINE mit Andreas Markschies von der Medizintechnik Rostock GmbH im Rostocker Rathaus. Der Eintritt ist frei.

Text: Wolfgang Thiel